treppenangler.de
Thorsten Hellwig
treppenangler Logo
Startseite Kumpel&Kollegen Impressum Datenschutz Das Letzte
Geschichten
Gedichte
Galerien

 

Lina ist acht Jahre. Das ist ein bißchen mehr als sechs, aber viel weniger als zehn. Lina darf heute nachmittag zum ersten mal alleine Zuhause bleiben. Ihre Mutter arbeitet, weil das Mütter immer machen, und ihr Vater ist zum Kaffeetrinken eingeladen, weil Väter das lustig finden. Bevor er die Wohnung verließ, hatte er Lina genau erklärt, wo er zu erreichen ist.
„Hier, die Nummer mußt Du wählen, wenn was ist! Da bin ich für die nächsten zwei Stunden.“, hat er gesagt. „Mach keinen Unfug!“, hat er auch noch gesagt, aber das müssen gute Väter sagen.
Lina denkt, jetzt ist sie erwachsen, weil, das ist klar, wer schon alleine Zuhause bleiben darf, der muß erwachsen sein. Sie setzt sich wichtig an den Tisch. Vor ihr liegt ein großes Blatt Papier, das so weiß ist wie die Wand. Lisa malt gerne und auch als Erwachsener darf man gerne malen. Sie nimmt einen großen schwarzen Stift und beginnt.
„Das wird ein Stier; so ein großer mit dunklen Augen, dicken Hörnern und einem goldenen Ring durch die Nase,“ denkt sich Lina und lacht vor sich hin. Er soll aussehen wie die in Spanien. Da war Lina mit ihren Eltern im Urlaub. Mutige Männer mit roten Tüchern warteten, bis der Stier kam und riefen am Anfang immer „Ole!“. Später haben sie dann nur noch „Oi, oi, oi!“ gerufen, weil der Stier fuchsteufelswild geworden ist und sind weggerannt. So einer solls werden.
Sie ist ganz vertieft in ihre Arbeit und der Stier wird größer und größer auf dem Blatt, seine Hörner sind lang und spitz. Der Nasenring glitzert. Das ist so, weil die Sonne drauf scheint. Die ist oben rechts im Bild. Auch den Mann mit dem roten Tuch hat Lina nicht vergessen. Er rennt gerade weg und ruft „Oi, oi, oi!“.
Mit einem Male hört Lina ein wüstes Getrampel draußen auf dem Flur. Und noch ehe sie sich versieht, springt die Tür auf. Ein schwarz gekleideter Mann kommt hereingestürmt, der Mund ist sperrangelweit auf und hinter ihm weht lustig wie eine kleine Fahne ein rotes Tuch. Ab und zu keucht er ein „Oi, oi, oi“ hervor. Das Getöse wird lauter. Der Stier trampelt ins Wohnzimmer. Er sieht genauso aus, wie ihn Lina gemalt hat. Das rechte hintere Bein ist ein bißchen kürzer und schielen tut er auch. Aber das ist egal, weil er groß ist und der Torero eine richtige Angst hat. Er schaut nach dem Torero und schnaubt nach dem Torero. Der wiederum ist so verzweifelt, daß er schnurstracks auf den Balkon rennt und so tut, als ob er springen würde. Kurz vor der niederen Mauer aber duckt er sich und rollt sich auf die Seite. Daß er nicht gesprungen ist, ist ziemlich schlau, weil Lina nämlich im dritten Stock wohnt. Lina hat mal eine Melone runtergeworfen und die war danach ziemlich kaputt. Und das wäre der Torero dann wohl auch. Aber er ist ja zum Glück nicht gesprungen. Der Stier hat den Trick erkannt und bremst rechtzeitig mit seinen Vorderbeinen. Jetzt sind sie beide auf dem Balkon. Der Torero wird mutig, ruft „Ole!“ und wirft dem Stier das Tuch über den Kopf. Der sieht jetzt rot. Der Torero fackelt aber nicht lange und rennt zwischen den Beinen des Stiers zurück in die Wohnung.
Lina sitzt auf ihrem Stuhl, und man kann tief in ihren Kopf gucken, weil der Mund so weit offensteht.
Der Stier schnaubt böse und wackelt so lange mit dem Kopf, bis das rote Tuch runtergefallen ist. Jetzt segelt es in aller Seelenruhe vom dritten Stock auf die Straße.
Der Stier ist jetzt so wild, wie nur ein Stier sein kann, dem man ein rotes Tuch über den Kopf geworfen hat. Er fängt mit dem linken Vorderlauf zu scharren an und stößt heiße Luft aus den Nüstern. Dann fegt er wie ein Wirbelwind wieder ins Wohnzimmer hinein. Von dem Getrampel fällt der Fernseher von seinem Tisch, genauso wie die Blumentöpfe, die eben noch ruhig und friedlich auf der Fensterbank standen und sich die Sonne anschauten. Es herrscht ein heilloses Durcheinander. Die Blüten und Stengel sind abgeknickt, die Erde liegt verstreut auf dem Boden. In der Wohnung jagt der Stier mittlerweile dem Torero hinterher und hat ab und an Probleme, die Kurven zwischen den einzelnen Zimmern richtig zu nehmen. Der Torero sagt nicht mehr „Ole“, sondern wieder „Oi, oi, oi!“ Hilflos und mit weit aufgerissenen Augen schaut er Lina an und schreit irgendwas in einer Sprache, die Lina nicht versteht. Die Hatz geht weiter. Wieder vom Wohnzimmer, über den Flur, hinein in die Küche - Geschirr klirrt, Töpfe scheppern- durchs Bad, ins Kinderzimmer, ins Schlafzimmer über die frischgemachten Betten.
Lina hat Mitleid mit dem armen Torero, der doch vorhin so schön „Ole“ gerufen hat. Obendrein ist sie durch das Getöse wieder zu Sinnen gekommen. Kurz überlegt sie sich, wie sie ihm helfen könnte. Wenig später hechtet der schwarze Mann wieder ins Wohnzimmer und rennt auf den Balkon zu - eine Sackgasse, aus der er nicht mehr herauskommt, weil sich das rote Tuch immer noch unten auf der Straße ausruht. Er kann den Stier nicht mehr bestechen. Er sitzt in der Falle. Der Stier kommt angebraust und weiß, daß er den Kampf gewonnen hat. Stolz, im sicheren Glaube des Sieges schnaubt er und will den Torero aufspießen. Der aber schließt die Augen und betet sein letztes Gebet auf Spanisch, weil er schließlich Spanier ist.
Kurz bevor der Stier den Torero erreicht, reißt es ihm wie von einer unsichtbaren Macht plötzlich die Beine auseinander. Er gerät ins Straucheln, kann nicht mehr vor der Balkonbrüstung bremsen und schießt geradezu darüber hinweg. Nun können Bullen aber nicht fliegen, das weiß jedes Kind. Mit einem lauten „Möööh!“ kommt er unten an und sieht ein bißchen aus wie die Melone, die Lina mal runtergeworfen hat. Aber mit dem Stier muß man kein Mitleid haben, weil er wirklich ein ausgesprochen böser Geselle war. Auch wenn der Torero ihn mit dem roten Tuch arg provoziert hat. Der Stier liegt jetzt mitten auf der Straße und ein roter VW Käfer, der noch nichts von fliegenden Stieren gehört und gesehen hat, fährt feste rein und hat `ne große Beule vorne links. Weil es ziemlich teuer ist, so eine dicke Beule aus dem Auto machen zu lassen, packen der Fahrer und sein Nebenmann als Entschädigung den Stier bei den Hörnern und binden ihn auf den Dachgepäckträger. Dann fahren sie nach Hause.
Lina war schlau. Sie hat gesehen, daß der Stier, der hinter dem Torero her war, genauso aussah, wie sie ihn gemalt hat. Die schielenden Augen, das zu kurze Hinterbein. Er würde sich verändern, wenn sie ihn auf dem Papier veränderte. Als der Stier also so auf den Balkon stürmte, hat Lina ihm einfach seine beiden Vorderbeine, die er zum Bremsen gebraucht hätte, einfach wegradiert. Deshalb konnte er nicht haltmachen und ist über die Brüstung geschossen. Den Autofahrern ist das erst zu Hause aufgefallen, daß der Stier nur noch zwei Beine hat. Das lag daran, weil sie ihn an den Hörnern aufs Autodach gezogen haben und nicht an den Beinen.
Der Torero ist noch ganz benommen, steht jetzt aber auf und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Lina ist stolz, daß sie es war, die den Stier zur Strecke gebracht hat. Ohne sie hätte der schwarze Mann nun zwei Löcher im Bauch.
Das weiß auch der Torero. Er atmet tief durch, verbeugt sich vor Lina und sagt bescheiden und leise „Ole!“. Dann verschwindet er.
Lina schaut sich in der Wohnung um. Wenn es ein Traum gewesen wäre, wären die Blumentöpfe wieder an ihrem Platz auf der Fensterbank und der Fernseher auf seinem Tisch, aber sie liegen immer noch auf dem Boden und die Blumen sind arg geknickt. Das hat Linas Vater wahrscheinlich nicht gemeint, als er sagte, daß sie keinen Unfug machen solle.
Lina nimmt ein neues Blatt Papier und malt eine Putzfrau, die auch Blumen und Geschirr reparieren kann. Wieder geht die Tür auf, nur ist es diesmal kein Torero, der vor einem Stier wegrennt, sondern eine Putzfrau. Sie sagt kurz „Guten Tag“, weil das höflich ist und weil sie nur wenig Zeit hat. Es gibt viel zu tun. Aber die Zeit wird knapp. Lina entscheidet sich, der Putzfrau noch vier weitere Arme zu spendieren, damit es ein wenig schneller geht.
Wenig später ist alles wieder piccobello.
Linas Vater kommt nach Hause. Er und die anderen Hausmänner hatten einen schönen Nachmittag. Die Wohnung ist so sauber, wie sie nie war. Lina sitzt am Tisch und malt einen Windstoß. Die Gardinen am Balkonfenster fangen an, lustig zu flattern.
Linas Vater weiß jetzt, daß man Lina alleine zu Hause lassen kann.